Individualisierung

Individualisierung
von Professor Dr. Günther Schanz
I. Begriffliches und Anliegen
Individualisierung ist ein personalwirtschaftliches Programm, das der Einzigartigkeit bzw. Individualität der Mitarbeiter systematisch Rechnung zu tragen sucht. Durch Individualisierung lässt sich gezielt auf deren Freiheitsbedürfnis sowie allgemein auf den Subjektcharakter lebendiger Arbeit ( Personalwirtschaft) positiv eingehen, womit zugleich ein unternehmensethisches Anliegen angesprochen ist. Weil Individualität, determiniert durch Leistungsdisposition, Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft, auch im Leistungsverhalten Ausdruck findet, wird mit Individualisierung aber auch die Interessenlage von Unternehmen berührt.
Institutionelle Verkörperung konsequent verfolgter Individualisierung ist das individualisierte Unternehmen im Sinn einer konkreten Utopie. Mit dieser Charakterisierung soll zum Ausdruck gebracht werden, dass eine vollständige Individualisierung lediglich einen idealtypischen, in der Unternehmensrealität nicht zu erreichenden Endzustand darstellt, dem man sich durch gezielte Gestaltungsmaßnahmen allerdings schrittweise annähern kann.
II. Die Programmpunkte
Wenn die im Hinblick auf ihre überdauernden und momentanen Leistungsvoraussetzungen (Leistungsdisposition und Leistungsfähigkeit) bestehenden Unterschiede und darüber hinaus auch die motivationale Differenziertheit (Leistungsbereitschaft) der Mitarbeiter systematische Berücksichtigung finden soll, dann kann dies dadurch erfolgen, dass
– seitens des Unternehmens den Mitarbeitern eine Mehrzahl von Arbeitssituationen offeriert werden, zwischen denen diese
– mittels selbstbestimmten Entscheidens das ihnen zusagende, d.h. ihren Bedürfnissen und Wünschen am besten entgegen kommende Arrangement auswählen können.
Damit sind zugleich die beiden zentralen Programmpunkte der personalwirtschaftlichen Individualisierung angesprochen, nämlich Wahlmöglichkeiten schaffen und Selbstselektion ermöglichen.
Was den ersten Programmpunkt Wahlmöglichkeiten schaffen anbelangt, so bilden dabei verschiedene Bereiche personalwirtschaftlichen Gestaltens und Handelns den nahe liegenden Ansatzpunkt. Als solche können v.a. die Arbeitszeit, das Entgelt- und das Karrieresystem, die Tätigkeiten, die Gruppenbeziehungen sowie die Mitarbeiterführung gelten. Zu beachten ist dabei, das die Individualisierungspotenziale innerhalb der genannten Gestaltungsbereiche und Handlungsfelder aus der Natur der Sache heraus oder aufgrund gesetzlicher und (kollektiv-)vertraglicher Regelungen unterschiedlich groß ausfallen. So sind sie beispielsweise bezüglich der Entgeltgestaltung durch Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen beträchtlich eingeschränkt bzw. bleiben – etwa in Form von  Cafeteria-Systemen – weitgehend der Entlohnung von Führungskräften vorbehalten. Ganz anders stellen sich die Verhältnisse im Hinblick auf Arbeitszeitregelungen dar, wo von einem breiten Spielraum für Gestaltungsmöglichkeiten auszugehen ist.
In dem mit Selbstselektion ermöglichen bezeichneten zweiten Programmpunkt kommt zunächst die Überzeugung zum Ausdruck, dass Menschen bzw. Mitarbeiter i.d.R. selbst am besten wissen, welche der unternehmensseitig offerierten Alternativen ihnen am meisten zusagen. Allerdings setzt die Wahrnehmung der Chance zur Selbstselektion Aufklärung voraus. Nur in solchen Fällen kann von informierten Entscheidungen zwischen den grundsätzlich verfügbaren Wahlmöglichkeiten gesprochen werden. Ferner muss Selbstselektion im Prinzip als Daueroption verfügbar sein. Die Erfüllung dieser Zusatzbedingung öffnet das Individualisierungskonzept gegenüber Lernprozessen, wie sie in der Realität an der Tagesordnung sind. Ferner können sich die Präferenzen der Mitarbeiter im Laufe der Zeit verschieben; dies etwa deshalb, weil sich ihre Lebensumstände und -pläne – etwa im Zuge einer neuen familiären Situation oder altersbedingt – verändern.
III. Prozessuale und unternehmenskulturelle Merkmale
Personalwirtschaftliche Individualisierung ist ein umfassender und gegebenenfalls auch langwieriger Prozess organisationalen und individuellen Lernens, der zweckmäßigerweise im Geist der  Organisationsentwicklung voranzutreiben ist. V.a. bei der Einführung des Konzepts erweist sich eine umfassende Information der Mitarbeiter – etwa durch die Unternehmensleitung, das Personalressort oder die Fachabteilungen – als unumgänglich. Wie alles Neue, so ist auch Individualisierung für ihre Nutznießer zunächst einmal mit Unsicherheit verbunden, stellt sie sich doch als ausgesprochen mehrdeutige Innovationssituation dar. Dass bei der Implementierung auch die Verfolgung einer Partizipationsstrategie zweckmäßig ist, versteht sich von selbst; ebenfalls, dass eine Beteiligung des Betriebsrats i.d.R. schon deshalb erforderlich wird, weil die unternehmensseitig angebotenen Wahlmöglichkeiten vielfach die Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechte dieses Organs der Arbeitnehmer-Interessenvertretung tangieren.
Schließlich ist davon auszugehen, dass sich Individualisierung in unternehmenskultureller Hinsicht (nachhaltig) bemerkbar macht: Als „Kultur des Unterschieds“, die Individualität dadurch berücksichtigt, dass den Bedürfnissen, Interessen, Neigungen und Fähigkeiten der einzelnen Mitarbeiter im Rahmen des unternehmensseitig Möglichen konsequent Rechnung getragen wird. Eine solche Kultur wirkt darüber hinaus vertrauensbildend, denn es wird den Mitarbeitern signalisiert, dass sie als Individuen akzeptiert, ernst genommen sowie gefördert werden und das Unternehmen ihnen die Fähigkeit zubilligt, verantwortlich über ihr eigenes Wollen zu entscheiden. I.d.R. wird sich dies nicht nur vorteilhaft auf das Leistungsverhalten der Mitarbeiter auswirken, sondern auch positive Außeneffekte haben, die insbesondere im Zusammenhang mit der Personalgewinnung Bedeutung erlangen können.
Literatur: Ruppert, R., Individualisierung von Unternehmen. Konzeption und Realisierung, Wiesbaden 1995; Schanz, G., Organisationsgestaltung. Management von Arbeitsteilung und Koordination, 2. Aufl., München 1994; Schanz, G., Personalwirtschaftslehre. Lebendige Arbeit in verhaltenswissenschaftlicher Perspektive, 3. Aufl., München 2000.

Lexikon der Economics. 2013.

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